GEDULD UND ZEIT

Um Spiegelbilder in Bergseen zu fotografieren, braucht man nicht nur die richtige Perspektive, ein gutes Licht und schönes Wetter, sondern auch Geduld. Man muss warten können — warten, bis sich auch der leichteste Wind legt und auf der Wasseroberfläche Wolken, Berge und Wälder erscheinen. Wie sagt schon ein japanisches Sprichwort: „Wenn man geduldig wartet, wird das schönste Wetter"



Gelassenheit, Geduld und Muße — diese drei Wörter tauchen immer häufiger als Überschriften in den großen Tageszeitungen auf oder dienen als Buchtitel für die boomende Ratgeber- und Lebenshilfeliteratur. Für mich sind diese drei sinnverwandten Wörter ein gewaltiges Kontrastprogramm in einer Beschleunigungsgesellschaft, deren Maxime bis dato höher, schneller, mehr, heftiger und härter heißt. Die Ungeduld ist zu einem Wesenszug unserer Zeit geworden. Der immer dünner werdende „Geduldsfaden" reißt uns schnell, weil wir das Leben im Laufschritt absolvieren. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wir kennen keine Muße. Aktivismus heißt die Prämisse, Geschwindigkeit ist unser Götze. Wir pressen das Letzte aus der Zeit heraus. „Multitasking" ist in — wir arbeiten an mehreren Sachen parallel. Wir zappen durchs Leben, absolvieren drei Programme gleichzeitig. Wir dürfen ja nichts verpassen. Unsere Zeit steht unter Druck. Überall drohen „Deadlines", nicht nur in der Werkstatt, Fabrik und im Büro, sondern auch im privaten Leben. Wir versuchen durch ein verschärftes Tempo Zeit zu gewinnen und weichen den essenziellen Fragen unseres Lebens aus.

 

„Der moderne Mensch wird in einem Tätigkeitstaumel gehalten, damit er nicht zum Nachdenken über den Sinn seines Lebens und der Welt kommt”, meinte schon Albert Schweitzer. Wir arbeiten schneller, essen schneller, surfen schneller - sind aber auch schneller gereizt und ausgebrannt.

Apropos schneller — ein Indianer, so wird erzählt, lässt sich auf dem Weg zu seiner Siedlung von einem Autofahrer mitnehmen. Mit großer Geschwindigkeit geht die Fahrt über den Highway. Nach kurzer Zeit, noch weit entfernt von seiner Siedlung, bittet der Indianer anzuhalten und steigt aus dem Auto. Auf die Frage des Fahrers, warum er nicht weiterfahren will, sagt er: „Meine Seele ist nicht mitgekommen."

Gelassenheit, Geduld und Muße haben natürlich auch mit der Zeit zu tun. Doch obwohl wir heute so viel freie Zeit haben wie nie zuvor, klagen wir ständig darüber, keine Zeit zu haben. Wir leben immer länger und haben immer weniger Zeit. Warum? Unsere Erschöpfungszustände und Depressionen wären eigentlich Anlass genug, sich vermehrt mit dem heute vorherrschenden Zeitverständnis auseinanderzusetzen. Es scheint, dass die alles dominierende und immer hektischer rotierende Ökonomie unsere Zeit geradezu verschlingt.


Wer in unserer Gesellschaft keine Zeit hat, zeigt, dass er gefragt ist. Keine Zeit zu haben ist quasi ein Statussymbol für Macht, Bedeutung und Wichtigkeit geworden. Der in Korea geborene und in Deutschland lebende renommierte Philosoph und Autor Byung-Chul Han bringt das Thema „keine Zeit" auf den Punkt, wenn er schreibt: „Heute haben wir keine andere Zeit als Arbeitszeit." Für den vor 3000 Jahren lebenden weisen König Salomon hatte die Zeit noch eine andere Bedeutung als er schrieb: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden und sterben, pflanzen und ausreißen, was gepflanzt ist, [...] weinen und lachen, klagen, tanzen, herzen und schweigen."


Im „Zauberberg" von Thomas Mann heißt es kurz und bündig: „Die Zeit - ein Geheimnis, wesenlos und allmächtig." Das ist bis heute so geblieben und die Zeit ist nach wie vor ein zeitloses Thema. Eines wissen wir jedoch genau -gemessene Zeit ist nicht dasselbe wie erlebte Zeit.